Die barocke "Passeirer Malerschule"
Wer im 18. und frühen 19. Jahrhundert im Passeiertal ein Gemälde in Auftrag geben wollte, war nicht darauf angewiesen, sich an einen in der Stadt Meran oder in noch größerer Entfernung tätigen Maler zu wenden. Zwischen ca. 1719 und 1845 bestand in St. Martin in Passeier eine Malerwerkstatt, in der Nikolaus Auer, seine Söhne Nikolaus Ignaz und Johann Benedikt sowie sein Enkel Benedikt Anton Bilder für zahlreiche Kirchen des Tales, aber auch von dessen näherer Umgebung schufen. Von ca. 1740 bis ca. 1770 lässt sich darüber hinaus das Wirken des ebenfalls in St. Martin ansässigen Bildhauers und Altarbauers Anton Ferner anhand erhaltener Arbeiten nachvollziehen. In Ferners Werkstatt waren auch sein Sohn Michael und sein Schwiegersohn Nikolaus Scheiring tätig. Das Schaffen Nikolaus Auers und seiner Söhne sowie Anton Ferners und seiner Mitarbeiter ist stilistisch dem Spätbarock und Rokoko zuzuordnen. Benedikt Anton Auers Werke zeigen hingegen bereits Merkmale eines ins Volkstümliche übersetzten Klassizismus.
Nikolaus Auer stammte aus Meran, für Anton Ferner wird eine Herkunft aus dem Tiroler Oberland angenommen. Die Niederlassung der beiden Künstler im Passeiertal ist wohl auf die Initiative des in St. Martin geborenen Priesters Michael Winnebacher zurückzuführen, der von 1687 bis 1742 als Kurat des Dorfes Moos im Hinterpasseier wirkte. Wie Beda Weber in seinem Buch „Das Thal Passeier und seine Bewohner“ von 1852 schreibt, „liebte“ Winnebacher „die Kunst als Dienerin der Religion“. Schon vor der Übersiedlung Auers und Ferners nach St. Martin hatte der Kurat die barocke Neuausstattung der Pfarrkirche von Moos in Angriff genommen. In seiner 1742, im Todesjahr Winnebachers gehaltenen Rede über „berühmte“ Tiroler Maler und Bildhauer erwähnte Anton von Roschmann den Kuraten als „Entdecker“ und ersten Förderer des in Moos geborenen Johann Pichler, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Meran und Bozen als Elfenbeinschnitzer tätig war. Die Werkstatt der Maler Auer war bis ca. 1770 in Winnebachers Geburtshaus untergebracht. Der Kurat hatte den „Aussermoarhof" bereits im Jahr 1716 an seine Haushälterin und Nikolaus Auers spätere Frau Maria Pichler verkauft. Noch heute wird das Haus als „Malerhaus“ bezeichnet.
Innerhalb der Geschichte der barocken Kunst in Tirol kommt den Maler- und Bildhauerwerkstätten in St. Martin in Passeier eine mehr als nur lokale Bedeutung zu. Wenn Nikolaus Auer und Anton Ferner ihre Betriebe in einem Dorf wie St. Martin und nicht in einer Stadt wie Meran eröffneten, so ist dies an und für sich nichts Ungewöhnliches. Da die Zahl der in einer Stadt zugelassenen Werkstätten von der Stadtverwaltung kontrolliert wurde und sich die etablierten Meister häufig erfolgreich gegen den Zuzug von Konkurrenten zur Wehr setzten, waren zahlreiche Künstler gezwungen, sich im ländlichen Raum niederzulassen. Ungewöhnlich allerdings ist die für das Passeiertal zu konstatierende Dichte, Strahlkraft und Kontinuität einer ländlichen Kunstproduktion. Arbeiten der Malerfamilie Auer sowie der Ferner-Werkstatt finden sich nicht nur in fast allen Kirchen und Kapellen des Passeiertals, sondern auch in zahlreichen Ortschaften des Vinschgaus, des Meraner und des Sterzinger Raumes, des Ötztals sowie des Sarntals. Drei Generationen der Familie Auer waren über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren hinweg künstlerisch tätig.
Das historische Verdienst von Nikolaus Auer und Anton Ferner liegt vor allem auch darin, dass sie mehreren teils überregional bedeutenden Künstlern die Grundlagen ihres Handwerks vermittelt haben. Auf Nikolaus Auers Bedeutung als Lehrer haben schon Peter Denifle und Andreas Alois di Pauli in ihren „Nachrichten von den berühmtesten tirolischen bildenden Künstlern“ sowie Beda Weber hingewiesen. Franz Innerhofer hat 1906 in einem Vortrag zur „Kunst an der Passer“ erstmals von einer „förmliche[n] Malerschule“ mit Sitz in St. Martin gesprochen und damit jenen Begriff geprägt, unter dem die barocke Kunstproduktion im Passeiertal seither bervorzugt verhandelt wird. Neben seinen drei Söhnen absolvierten bei Nikolaus Auer Sebastian Haidt aus St. Martin, Anton Siess aus Obertelfes bei Sterzing sowie Johann Evangelist Holzer aus Burgeis im oberen Vinschgau ihre Lehre. Während seine Brüder Joseph Anton und Nikolaus Ignaz jung verstarben, übernahm Johann Benedikt Auer nach dem Tod seines Vaters Nikolaus dessen Werkstatt. Joseph Haller aus St. Martin setzte bei Johann Benedikt Auer seine bei dessen Vater begonnene Ausbildung fort.
Haidt war von Meran-Obermais aus für Kirchen des Passeier- und des Ultentals tätig, während sich Siess als führender Maler des Spätbarock im Sterzinger Raum etablierte. Holzer und Haller gingen wie ihr Lehrer Nikolaus Auer zu Fortbildungszwecken nach Augsburg. Während Holzer in der schwäbischen Reichsstadt verblieb und sich von dort in den Olymp der deutschen Barockkunst malte, kehrte Haller in sein Heimattal zurück. Sein Schaffen bildet nicht nur den Höhepunkt der barocken „Passeirer Malerschule“, sondern zugleich eine der Sternstunden der Malerei des Spätbarock und Rokoko in Tirol. Im Unterschied zu den Mitgliedern der Malerfamilie Auer wirkten Holzer und Haller auch in breitem Umfang als Freskomaler.
Wie Karl Gruber in zwei Beiträgen in der Zeitschrift „Der Schlern“ von 1974 und 1975 in Erinnerung gerufen hat, bestand in St. Martin neben der „Malerschule“ auch eine „Bildhauerschule“, weshalb man „umfassender noch“ von einer „Kunstschule“ sprechen könne. Bei Anton Ferner gingen nicht nur sein Sohn Michael und vielleicht auch sein Schwiegersohn Nikolaus Scheiring in die Lehre, sondern auch die beiden in Stilfes bei Sterzing geborenen Bildhauer Johann Perger und Jakob Gratl. Perger, der seine Ausbildung in Augsburg und an der Wiener Akademie vervollkommnte, gilt als wichtigster Südtiroler Bildhauer des Spätbarock. Sein vornehmliches Wirkungsgebiet war das Wipptal mit seinen Seitentälern. Der in Innsbruck tätige Gratl war seinerseits vor allem als Lehrer von Bedeutung.